Rotgelbe Legenden - Eine Serie von Manfred Kraus
Teil 13 über Fritz Sturm
Geschrieben von Philippe Bader
Sein Händedruck war kräftig und seine Stimme fest. Auch seine wachen Augen, sein frischer Gesichtsausdruck und seine stattliche Erscheinung ließen ihn spürbar jünger wirken. Wäre da nicht der Stock gewesen, man hätte ihm sein wahres Alter nie und nimmer abgenommen. Fritz Sturm war ein echtes Kaufbeurer Eishockeyurgestein. Und er vermochte zu erzählen. Anschaulich und fesselnd. Sein Gedächtnis glich einem Schatzkästchen, das Erlebnisse und Begebenheiten aus den Anfängen des Eissportvereins Kaufbeuren sorgsam hütete. „Im Nachkriegsjahr“, drehte der alte Recke das Rad der Zeit um mehr als sieben Jahrzehnte zurück, „herrschten Not und Elend. Die Menschen haben unheimlich gelitten. Unsere ganze Leidenschaft aber gehörte trotzdem dem Eishockey. Es hat uns sehr geholfen und über manches hinweggetröstet.“
Fritz Sturm war sechzehn. Mitte der vierziger Jahre. Als Deutschland soeben das düsterste Kapitel seiner Geschichte hinter, aber noch keine Zukunft vor sich hatte. Ein eishockeybegeisterter Bursche, der mit seinen Freunden auf Schraubendampfern über das Eis fegte, krumm gewachsene Äste von den Bäumen sägte und in Ermangelung eines Pucks einer alten Schuhcremedose hinterherjagte.
Ein waschechter Kaufbeurer. Blutjung, aber wiederum auch schon alt genug, um in einer entbehrungsreichen Zeit das Leben in die Hand zu nehmen. So wurde der jugendliche Fritz Sturm zu einem der Männer der ersten Stunde – und das gleich in doppelter Hinsicht, denn er war nicht nur dabei, als der Eissportverein Kaufbeuren aus der Taufe gehoben wurde. Damals. Anno sechsundvierzig. Im Gasthof Engel. Vielmehr stand Fritz Sturm auch von Anfang an für den neugegründeten ESVK auf dem Eis.
Aber der Reihe nach. Kaufbeuren war zwar von der Bombardierung weitgehend verschont geblieben, doch litt auch die Stadt an der Wertach unter den verheerenden Folgen des Zweiten Weltkrieges. „Die Zeiten waren sehr hart. Lebensmittel gab es nur auf Zuteilungsmarken und allseits herrschte Hunger. Es ging ums nackte Überleben. Mit Tauschhandel auf dem Land hat man sich über Wasser gehalten. Man verließ die Stadt mit Geschirr oder einem Teppich und kam mit Eiern wieder heim.“ Trotz oder vielleicht auch wegen der Not wurde in Kaufbeuren Eishockey gespielt. Auf dem Eisweiher. Hingebungsvoll. Und ganz augenscheinlich auch gut. „Die Schulen waren geschlossen und am Eisweiher hat uns ein Mann aus Füssen zugeschaut. Ludwig Kuhn. Er wurde später zum Nationalspieler. Buben, ihr spielt ja prima Eishockey, rief er uns zu, ihr müsst einen Verein aufmachen.“
Ein kühner Gedanke, doch kam die Sache tatsächlich ins Rollen, denn die ausgezehrten Burschen zählten zwar beinahe durchweg noch keine achtzehn Jahre, aber sie konnten Georg Leitner, dessen Eltern den seinerzeit in der Schmiedgasse ansässigen Gasthof Engel betrieben, überreden: „Der Lotsch war schon erwachsen und er hat uns zugesagt, den Vorstand zu übernehmen, wenn wir einen Verein mit einer echten Mannschaft gründen wollten.“ Die Einberufung einer Versammlung stellte freilich keine Selbstverständlichkeit dar, denn das Allgäu gehörte zur amerikanischen Besatzungszone und nicht nur zu derlei Absichten musste die Militärregierung ihre Zustimmung erteilen. Die Amerikaner aber begegneten der Kaufbeurer Eishockeyverrücktheit mit Wohlwollen. Sie gaben grünes Licht und standen auch fürderhin hilfreich zur Seite – eine Feststellung, auf die Fritz Sturm Wert legte, während seine zuvorkommende Gemahlin Elisabeth Kaffee und Gebäck auftrug und sich beim Kramen in den alten Erinnerungen ein Funkeln in die Augen des betagten Mannes schlich. Zweifellos hatten seine Augen ebenso hell gefunkelt, als er sich am Abend jenes fünfzehnten Januartages anno sechsundvierzig erwartungsvoll in den Gasthof der Leitners begeben hatte, um der Gründungsversammlung des ESV Kaufbeuren beizuwohnen. Wohl ahnten die fünfundzwanzig jungen Leute seinerzeit nicht, dass sie einen bedeutenden Beitrag leisteten, um die von den Kriegswirren verschüttete Zukunft wieder ein Stück weit ans Licht zu holen, und das historische Ausmaß ihres Tun sahen sie bestimmt ebenso wenig voraus, vom Zauber des Anfangs beseelt aber waren sie ganz gewiss. „Auf der Versammlung herrschte eine Art Aufbruchsstimmung und wir alle verspürten ein Hochgefühl. Der Lotsch war zwar auf dem Eis nicht so talentiert wie manch anderer, aber er setzte sich sehr für den Verein ein und er hat alles zusammengehalten. Er war tüchtig und ist unser erster Vorstand geworden. “
Der Eissportverein Kaufbeuren war gegründet und alsbald stand auch eine Mannschaft. Aus Fritz Sturm wurde Fritz der Stürmer. Mit der Montur war es allerdings noch nicht allzu weit her: „Wir hatten fast nichts und eigentlich spielten wir beinahe ohne Ausrüstung. Kein Helm. Kein Schulterschutz. Kein Knieschutz. Eigentlich hatten wir überhaupt keine Schoner. Ich habe zum Spielen die Glacéhandschuhe meiner Großmutter angenommen und unsere ausgebleichten roten Dressen haben wir uns von den Handballern geliehen. Unten herum haben wir selbstgenähte Skihosen und Anschraubschlittschuhe getragen. Absatzreißer.“ Dürftig war die Ausrüstung und einfach die Zeit, hingebungsvoll aber die Einsatzbereitschaft. Voller Begeisterung wurde gebaut, genagelt und gehämmert, sodass alsbald in die Holztore Netze gehängt werden konnten und eine Eisbahn mit niedriger Bande entstand. Bescheiden, aber ein Anfang. Darauf ließ sich aufbauen.
Man darf die Vergangenheit nicht verklären. Dafür war sie zu hart, dafür hat sie den Menschen zu viel abverlangt. Das Gefühl, trotz aller Not, trotz aller Hürden, trotz aller Erschwernisse gemeinsam etwas auf die Beine gestellt zu haben, aber beseelte die jungen Leute und es befeuerte ihre Tatkraft. „Das Eishockey war einzigartig. Unsere Leidenschaft, unser Ehrgeiz, unser Zusammenhalt. Wir hatten riesigen Spaß und es herrschte eine unglaubliche Kameradschaft, ich darf sagen Freundschaft. Wir waren lauter Freunde.“
Der Stein war ins Rollen gebracht und schon im Februar 1946 erkämpften sich die Kaufbeurer Grünschnäbel auf dem Faulenbacher See bei ihrem allerersten Spiel nach einem schnellen 0:3-Rückstand ein vielbeachtetes 3:3 bei der deutschen Jugendmeistermannschaft des EV Füssen, in deren Reihen nicht nur Xaver Unsinn und Markus Egen wirbelten – und auch bei dem umgehend arrangierten Rückspiel gelang auf dem heimischen Jordanweiher ein Unentschieden mit demselben Ergebnis. „Auf den provisorischen Schneetribünen drängten sich Scharen von Zuschauern. Als der Puck über die niedrige Bande geschlenzt wurde“, hat uns Fritz Sturm eine Gänsehaut hervorrufende Anekdote aus dem ersten Heimspiel der Vereinsgeschichte hinterlassen, „wollte Xaver Unsinn diesen wieder zurückholen. Der Eisweiher besaß aber warme Quellen und der Xaver fiel in ein Eisloch. Er versank bei strengem Frostwetter fast bis zum Hals im eiskalten Jordanweiher. Wir tauten den Halberfrorenen im nahen Gasthaus Bad wieder auf, sodass er im letzten Drittel wieder spielen konnte.“
Obwohl die Menschen der Schuh an allerlei Stellen drückte, wurde der Mannschaft um Fritz Sturm, Ludwig Schuster, Albrecht Schmid, Helmut Posselt, Max Mayer, Sepp Wannemacher und Max Amann große Aufmerksamkeit zuteil. Offensichtlich wurde der neugegründete Eissportverein im Nachkriegskaufbeuren als Lichtblick wahr- und als Bereicherung angenommen: „Die Leute wollten auch wieder einmal eine Freude haben und etwas anderes erleben als ihre Not. Es kamen viele Zuschauer und die behelfsmäßigen Schneeränge waren stets dicht besetzt.“
Fritz Sturm, den damals alle Fitze nannten, ist zeitlebens ein Mann der Tat gewesen. Einer, der mitdenkt und dann auch selber hinlangt, sich selbst aber nie in den Mittelpunkt rückte. Nichts lag ihm ferner als Übertreibungen. Er hat uns handfestes Wissen über die Anfänge des Eissportvereins Kaufbeuren hinterlassen. Gerade aber auch seine unterhaltsamen Anekdoten lassen jene Tage des Aufbruchs durch ihr hohes Maß an Anschaulichkeit und Authentizität lebendig werden. Als staunender Zuhörer hielt man den Atem an, wenn die Augenblicke aus ihm heraussprudelten und er aus der Gründungszeit erzählte – vom mannshohen Eisberg, der tagelang wieder weggepickelt werden musste, nachdem man beim Eisspritzen den Wasserschlauch kurzerhand über Nacht an zwei Holzschragen gebunden hatte, von dem heimatvertriebenen Gablonzer Gisbert Thamm, der bei seinem ersten Spiel in einer langen Unterhose auflief, von der Fahrt zum Training in Füssen bei minus fünfzehn Grad auf der offenen Ladefläche des amerikanischen Militärlasters, vom aufstiegsentscheidenden 6:5-Sieg in Weßling, wo die Kaufbeurer Spieler in voller Montur und mit Sack und Pack vor den wild gewordenen Zuschauern fliehen mussten, von einem kleinen Bier und einer Scheibe Pressack als Aufstiegsprämie, von Heinz Krikorka, den die Zuschauer wegen seines selbstgebastelten Schulterschutzes für bucklig hielten, von einer mit nur sechs Mann durchgestandenen Partie in Miesbach, von der ersten richtigen Bande, vom Vorzug, sich in den Kabinen des Stadtbades umziehen zu dürfen, und schließlich auch noch von den Fitze-vor-noch-ein-Tor-Rufen des begeisterten Publikums.
Eishockeykaufbeuren war erwacht und schon bald wurden die sportlichen Ambitionen größer, die Spiele ernsthafter, die Gegner schwerer, die eigenen Erwartungen anspruchsvoller. Auch die Wälle um die Eisbahn wuchsen. Schließlich waren sie imstande, Tausende von Menschen aufzunehmen. Das rotgelbe Abenteuer hatte begonnen. Einstweilen aber standen die Aufeinandertreffen mit Miesbach, Straubing, Ziegelwies, Holzkirchen und den als Haudegen gefürchteten Weßlingern noch sichtlich unter dem Einfluss des Wetters, sollte Kaufbeuren die Revolution eines Kunsteisstadions mit Holztribünen doch erst 1958 erleben. Die Tücken des Natureises konnten indessen nicht verhindern, dass sich das Kaufbeurer Eishockey prächtig entwickelte. Schon 1952 gelang der Aufstieg in die Landesliga, die zweithöchste Spielklasse überhaupt, und im Laufe der Jahre kamen nach und nach starke Spieler hinzu. Kapitän Fritz Medicus vom EV Tegernsee, das sechzehnjährige Naturtalent Fredl Hynek aus Neugablonz und vom SC Ziegelwies die Gebrüder Walter und Gusti Schaudeck.
Ehe Fritz Sturm schließlich 1956 wegen des zeitraubenden Einstiegs in das schwiegerelterliche Traditionsgeschäft Werz & Sturm der Vernunft gehorchte und seine geliebten Schlittschuhe sechsundzwanzigjährig an den Nagel hängte, half er noch beim Sprung in die höchste deutsche Spielklasse kräftig mit. Binnen zehn Jahren hatte sich der junge Eissportverein Kaufbeuren Stück für Stück bis ganz nach oben gekämpft und in der Oberliga Süd sollte er nun auch im Punktspielbetrieb auf die Besten des Landes treffen. Auf Riessersee, auf Tölz und insbesondere natürlich auf den benachbarten deutschen Serienmeister EV Füssen, der seine Übermacht auf berühmte Spieler vom Schlage eines Xaver Unsinn, eines Ernst Trautwein, Paul Ambros, Markus Egen und Max Pfefferle gründete. Das aber ist schon wieder eine andere Geschichte.
Der im elterlichen Gasthaus Hirschkeller aufgewachsene Fritz Sturm war ein offener Mensch, der wie kaum ein Zweiter Bodenständigkeit und Vornehmheit gleichermaßen auf sich vereinigte, weit über den Tellerrand hinauszublicken vermochte und auch als langjähriger Stadtrat guten Ideen unabhängig von deren Herkunft aufgeschlossen gegenüberstand. Er ist ein Leben lang in Kaufbeuren geblieben. Nur einmal hat er seine geschätzte Heimatstadt für zwei Jahre verlassen, als er Anfang der Fünfziger sein Studium absolvierte. „Nachdem ich das Abitur abgelegt hatte, studierte ich in Krefeld Textilingenieur. Deshalb wechselte ich für diese Zeit zu Preußen Krefeld. Mit den Preußen wurde ich deutscher Eishockeymeister. Wir schlugen sogar sensationell die schier unbesiegbaren Füssener. Außerdem spielte ich mit Preußen am Spengler Cup in Davos und wir reisten zu Spielen nach Holland und Norwegen. Wir trainierten damals im Krefelder Schlachthof. Das brachte uns große Vorteile gegenüber der Konkurrenz. Zwar hingen über uns die geschlachteten Kühe, unter denen wir durchlaufen mussten, aber wir waren richtig gut durchtrainiert.“
Begegnungen und Gespräche mit Fritz Sturm haben mich stets sehr berührt. Seinen Worten wohnte etwas Bedeutsames inne, seine Verbindlichkeit bewegte. Und wenn wir dann mit einem festen Händedruck Abschied voneinander nahmen, erschien mir die Gründung des Eissportvereins Kaufbeuren zunehmend wie ein Vermächtnis jener Männer der ersten Stunde, die auch Männer der Tat waren. Sie haben den Grundstein für einen Verein gelegt, der die Menschen im Allgäu noch heute in seinen Bann schlägt.
Auf dem Foto: Fritz Sturm (rechts) im Sommer 2016 auf der JHV des ESV Kaufbeuren e.V. mit gesch. Vorstand Karl-Heinz Kielhorn
Im Februar 2020 ist mit dem hochgeachteten einstigen Torjäger, Geschäftsmann und Stadtrat das letzte rotgelbe Gründungsmitglied von uns gegangen. Fritz Sturm gehörte zu den Männern der ersten Stunde und er hat sein ganzes Leben lang eisern zu seinem ESVK gehalten. Noch im hohen Alter glühte rotgelbe Eishockeyleidenschaft in dem gebürtigen Kaufbeurer. Sie verlieh seinen spannenden Erzählungen aus fernen Tagen Ausdrucksstärke, Lebendigkeit, Echtheit und Nähe. Auch seine Erinnerungen sind ein kleines Vermächtnis und das Beste daran ist, dass Fritz Sturm selber ein Teil seiner Kaufbeurer Eishockeygeschichten ist, denn die Geschichte des ESVK ist auch seine Geschichte.
Fritz Sturm
Geboren: 26. Juli 1929 in Kaufbeuren
Gestorben: 10. Februar 2020 in Kaufbeuren
Position: Stürmer
ESVK: Gründungsmitglied 1946, Torjäger von 1946 bis 1956 (Anfang der Fünfziger unterbrochen von seinem zweijährigen Studium in Krefeld)
Erfolge mit dem ESVK: Aufbau des neugegründeten Vereins, sportlicher Aufstieg 1956 in die höchste deutsche Spielklasse
Größter Erfolg: Deutscher Meister 1951 mit Preußen Krefeld
Die Kaufbeurer Urmannschaft des Jahres 1946: Helmut Posselt, Albrecht Schmid, Luggi Schuster, Fritz Sturm, Max Mayer, Sepp Wannemacher, Gerhard Schmid, Franz Maurer, Heinz Krikorka, Hermann Geg, Max Amann, Georg Leitner und Walter Mayer, ab dem Winter 1947 Anderl Karg, Joschi Androsch, Bruno Pfeifer
Text: Manfred Kraus, Apfeltrach
Grafik: Manuel Ort
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