Rotgelbe Legenden - Eine Serie von Manfred Kraus

Teil 6 über Pavel Richter


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Die Mannschaft zelebrierte ihr berauschendes Eishockeyspektakel und der Berliner Platz inszenierte sich selbst. Die Stimmung war euphorisch, mitreißend, verrückt, die Halle vollgestopft bis unter die Decke. Sie wurde zur Pilgerstätte für Eishockeyfreunde aus ganz Süddeutschland und die Fachpresse schwärmte vom „Wahnsinn im Allgäu“. Wo das rotgelbe Fieber grassierte, der ESVK über sich hinauswuchs, die Hütte gerammelt voll war. Woche für Woche. Ausverkauft. Weit über sechstausend. Oder mehr. So genau weiß das niemand.

Zweieinhalb Stunden vor Spielbeginn musste man auf seinem Platz sein. Besser drei. Sonst war man im Begriff, ein Problem zu bekommen. Weil er dann weg war, der Stammplatz. Schließlich wollten Gott und die Welt dabei sein beim Eishockey in Kaufbeuren. Wo es abging und kein Halten mehr gab. Das Ausverkauftschild wurde zum Dauerbrenner und kam es doch einmal nicht in Gebrauch, waren die Ränge trotzdem prall gefüllt. In aller Regel aber reichte das Fassungsvermögen bei weitem nicht aus. Mitunter wochenlang vorher war das Kartenkontingent restlos vergriffen und nicht selten blieben die Wünsche Tausender unerfüllt. An den Kassenhäuschen herrschte Belagerungszustand und ganze Horden von Menschen mussten unverrichteter Dinge wieder von dannen ziehen. Außer sie blieben. Draußen. Um wenigstens ein bisschen teilzuhaben an der Atmosphäre. Wer aber drin war, dem entgleiste der Ruhepuls, der wurde mitgerissen von einer Welle der Begeisterung, der geriet in einen rotgelben Taumel, aus dem es ein Entrinnen nicht gab – und der brauchte Stehvermögen, denn heim ging er erst wieder, wenn er die vom Duschen aufs Eis zurückgekehrte Mannschaft noch einmal frenetisch gefeiert hatte. Bedingungslos peitschten die entfesselten Anhänger ihre Rotgelben nach vorne. Sie standen wie ein Mann hinter ihrer Mannschaft. Zur Einheit verschmolz die Leidenschaft der Tribüne mit jener der Protagonisten auf dem Eis. Die Halle bebte. Sie erzitterte. Platzte aus allen Nähten. Außer Rand und Band die Gefühle. Völlig losgelöst. Getrost konnte der Ernst des Lebens sich den ganzen Abend lang freinehmen. Alles hüpfte, frohlockte, jubelte, staunte, stimmte ein in die donnernden Sprechchöre, deren ohrenbetäubende Lautstärke das Stadiondach lupfte, während sich in den glasigen Augen der hingerissenen Besucher das sprühende Funkeln des Sternwerfermeeres spiegelte. Wir sprechen vom unvergesslichen Bilderbuchjahr 1986/87, in dem der ESVK über sich hinauswuchs. Alle Dämme brachen und sagenhafte 5260 Zuschauer pro Heimspiel wollten die atemberaubende Gänsehautatmosphäre des Berliner Platzes miterleben. Eine Saison wie ein Traum. Nicht wenige sehen in ihr die schönste von allen. Monatelang spielte sich der ESV Kaufbeuren in einen Rausch und in die Herzen der Menschen weit über die regionalen Grenzen hinaus. Wie ein Orkan fegten die von Dr. Richard Pergl angeleiteten Allgäuer über Eishockeydeutschland hinweg. Sie standen bis weit in die Saison hinein an der Spitze und mit dem späteren Vizemeister Mannheimer ERC leisteten sie sich über weite Strecken ein schwindelerregendes Kopf-an-Kopf-Rennen um die Tabellenführung. Wie an der Schnur gezogen lief die Scheibe. Die Gegner wurden geputzt, wie sie kamen. 5:1 gingen die Kölner Haie, immerhin der kommende Meister, in Kaufbeuren baden, der Hauptrundenerste aus Rosenheim bekam ein 4:1 aufgetischt, der EV Landshut wurde 8:4 deklassiert, auch die berühmte DEG zog in einem famosen Vorweihnachtsmatch den Kürzeren und für Finalist Mannheim gab es an der Wertach überhaupt nichts zu erben. Der kleine ESVK mischte die Bundesliga auf. Aus 8:0 wurden alsbald 19:5 Zähler und selbst als die Doppelrunde auf ihre erste Hälfte zurückblickte, lag der David aus dem Allgäu lediglich ein Pünktchen hinter dem Tabellenersten der Bundesliga zurück.

Der Eissportverein Kaufbeuren war in aller Munde und der Berliner Platz geriet zum Eishockeymekka für Sportfreunde aus nah und fern, die sich mitnehmen lassen wollten auf einen Teufelsritt. Die ganze Woche über gab es kein anderes Gesprächsthema mehr und am Spieltag herrschte der Ausnahmezustand. Die Auszeichnung „Goldener Puck“ adelte das Kaufbeurer Publikum als bestes des Landes. „Noch heute lösen die Gedanken an damals so etwas wie Gänsehaut bei mir aus“, geht das Wintermärchen dem einhundertfachen Internationalen Dieter Medicus auch Jahrzehnte später noch durch und durch, „ich erinnere mich an ein Spiel gegen den Mannheimer ERC. Die Badener kamen als Zweiter zu uns und der Berliner Platz war wie gewohnt restlos ausverkauft. An die achttausend Besucher zwängten sich in unsere überfüllte Eishalle. Sie standen überall. Manche kletterten hinter die Reklametafeln und viele verfolgten sogar das Spiel draußen vor den Toren. Man sprach von fünfzehnhundert Zaungästen. Spekulationen zufolge hätte der ESVK an jenem Abend gut und gerne fünfzehntausend Karten verkaufen können. Es herrschte eine gewaltige Stimmung und zudem konnten wir das Spitzenspiel auch noch mit 5:2 für uns entscheiden. Ein bis zwei Stunden nach dem Spiel waren noch immer Tausende im Stadion, um uns zu feiern. Gefühlt wurde das Queenlied ‘We are the champions‘ durchgesungen.“

Dabei hatte es im Vorhinein so gar nicht rosig ausgesehen. „Wir waren alle total verunsichert. Im Grunde genommen hatten wir regelrecht Angst davor abzusteigen“, erinnert sich Urgestein Dino Medicus an den Umbruch des Sommers und ein überwiegend durch unerfahrene Spieler ergänztes Team, das einen einschneidenden Aderlass zu verkraften gehabt hatte. Der große Didi Hegen war ins Rheinland abgewandert, Markus Gmeiner zurück nach Füssen gegangen und neben dem Neulandshuter Sepp Kontny hatten auch noch die von Eintracht Frankfurt unter fragwürdigen Umständen abgeworbenen Brüder Harald und Klaus Birk Kaufbeuren verlassen. Diese Verluste auszugleichen, schien schier unmöglich. Damit aber nicht genug, war der ESVK doch zu allem Überfluss auch noch auf den beiden überaus bedeutsamen Ausländerpositionen von einer markanten Verunsicherung heimgesucht worden. Noch einmal Dieter Medicus: „Nach mehreren sehr erfolgreichen Spielzeiten waren Trainer Florian Strida und unsere beiden Weltklasseausländer Vladimir Martinec und Bohuslav Stastny 1985 zurück in ihre Heimat gegangen und die hinterlassenen Fußabdrücke hatten sich für die beiden neuen Ausländer Frantisek Cernik und Vladimir Veith einfach als zu groß erwiesen.“ Dass dann doch alles ganz anders als befürchtet kommen sollte, lag selbstredend auch anno 86 zuvörderst an der geradezu sprichwörtlichen mannschaftlichen Geschlossenheit jener Tage und am überragenden Zusammenhalt des hart und konsequent arbeitenden Teams, dem wahren Geheimnis des märchenhaften Erfolgsweges der Achtziger. Die Harmonie stimmte und der Kader stellte sich als überraschend schlagkräftig heraus, seine Vervollkommnung erfuhr er indessen erst und entscheidend durch zwei neuerliche Glücksgriffe aus der Tschechoslowakei, die sich nahtlos einfügten und gleichzeitig als Zugpferde vorangingen – Weltmeister Pavel Richter und sein kongenialer Zwilling Karel Holy, ein läuferisch herausragender Fädenzieher, der das Spiel zu lesen und den tödlichen Pass zu spielen vermochte, ein Filigrantechniker mit der Übersicht eines Adlers, ein glänzender Botschafter der berühmten osteuropäischen Eishockeyschule. Blind sein Verständnis mit dem Mann, der alle in seinen Bann schlug. Pavel Richter, der Listenreiche. Ein Wirbelwind. Ein Tänzer auf dem Eis. Ein artistischer Schlittschuhläufer. Ein Rastelli auf Kufen. Alleinunterhalter und klassischer Mannschaftsspieler in einem. Torjäger und Vorbereiter. Ungeheuer seine Stocktechnik. Gewaltig sein läuferisches Potential. Ein Puckakrobat, der seine Gegenspieler elegant umkurvte und zum Topscorer der Bundesliga avancierte. Brandgefährlich in Überzahl, excellent bei einem Mann weniger. Auch bei zwei. Unvergesslich seine zeitgewinnenden Unterzahlsoli, als er über das Eis fegte, seine ihm nacheilenden Gegner narrte und mit seiner begnadeten Technik ein Penaltykilling von allerhöchster Güte vollführte. Der Puck schien an seinem Schläger zu kleben, die Schlittschuhe an seinen Füßen angewachsen zu sein.

Nach Erreichen der Altersgrenze und aufgrund seiner herausragenden Verdienste um das tschechoslowakische Eishockey, die im Erringen des Weltmeistertitels und seiner Berufung ins Second All-Star-Team beim Prager Heimturnier 1985 gipfelten, hatte der 135-fache Nationalspieler die sozialistische CSSR verlassen und ins Ausland wechseln dürfen, war jedoch in der Schweizer Nationalliga A nicht glücklich geworden. Dies sollte sich im Allgäu auf Anhieb grundlegend ändern. Der gebürtige Prager übernahm Didi Hegens Nummer elf, blühte auf, entzündete ein Feuerwerk der Spielfreude, begeisterte. Als Topscorer, als bester Ausländer auf deutschem Eis, als Ästhet. Pavel Richter und Karel Holy kannten sich aus gemeinsamen Zeiten bei Sparta Prag. Sie schlugen ein wie der Blitz und sandten ein immerwährendes Donnergrollen über das Land. Da passte alles zusammen und auch ihre Harmonie mit Dietrich Adam verblüffte. Kaufbeuren lag ihnen zu Füßen. Sie rissen die Fans zu wahren Begeisterungsstürmen hin und ihre Mitspieler zogen sie auf ein höheres Niveau, verband sich doch die Brillanz der beiden neuen Traumtschechen mit der Erfahrung der Routiniers und dem Schwung der Jungen zu einer idealen Mischung. Auch in seiner zweiten Saison beim ESVK, welche den Glanz des ersten Galajahres nicht mehr ganz zu erreichen vermochte und die Mannschaft auf einer gefühlten Berg- und Talfahrt sah, gelangen Pavel Richter beeindruckende Werte und mitreißende Auftritte, ehe sich die Wege nach zwei glücklichen Spielzeiten trennten und der Weltklassestürmer 1988 nach Nürnberg, das eine günstigere Verkehrsverbindung zur Goldenen Stadt an der Moldau und gewiss auch keine geringere Entlohnung bot, abwanderte. „Pavel konnte eine Mannschaft führen“, würdigt auch der legendäre Teamkapitän Manfred Schuster den ungekrönten König Kaufbeurens, „und er war bei den gegnerischen Torhütern verhasst, weil er sie immer genau in dem Moment entscheidend störte, als wir von der blauen Linie unsere Schlagschüsse abfeuerten. Die ganze Mannschaft aber war eine Einheit. Insbesondere auch mit dem Publikum. Die meisten Spieler kamen aus Kaufbeuren und die Zuschauer identifizierten sich mit uns. Es war eine überragende Zeit und der Berliner Platz glich einer Festung.“ Woche für Woche brannte der brodelnde Hexenkessel lichterloh. Stimmgewaltig stand das treue Publikum hinter seinen Lieblingen. Vorbehaltlos. Unbedingt. Die traditionsreiche Eishockeyhochburg Kaufbeuren wurde zum Tollhaus. Ein Streichholz hätte genügt, um das Pulverfass in die Luft fliegen zu lassen. „Die Stadionatmosphäre war gewaltig“, schlägt der gebürtige Pfrontener und seinerzeit aus Rosenheim gekommene Nationalspieler Jochen Mörz in dieselbe Kerbe. „Bereits in den Achtzigern waren viele Vereine sehr international besetzt. Beim ESVK hatten wir zwar Pavel Richter und Karel Holy, ansonsten aber bestand die Mannschaft beinahe aus lauter Einheimischen und Allgäuern. Das machte den ESVK aus und das ist noch immer seine ganz große Stärke. Mein Herz gehört ihm noch heute und ich spüre eine echte Verbundenheit. Ich hänge an ihm. Er bedeutet für mich Heimat.“

Aus Deutschlands kleinster Bundesligastadt kamen die Allergrößten. Dass sie am Ende nicht über den fünften Hauptrundenplatz und das Viertelfinale hinauskamen, mag an der in letzter Konsequenz fehlenden Kadertiefe gelegen haben, im Schatten des Hochgefühls und der Dauergänsehaut aber verblasste schon seinerzeit die Bedeutung von Zahlen, wie es Klasseverteidiger Dieter Medicus, der auch bei der WM 1987 in Wien zusammen mit Manfred Schuster die Kaufbeurer Stadtmauer aufbaute, auf den Punkt bringt: „Das machte uns damals nichts aus, denn die großartigen Erinnerungen und Erlebnisse prägten sich tief ins Bewusstsein ein. Nicht nur bei mir. Die kleine Stadt Kaufbeuren Spitzenreiter in der Bundesliga, das war etwas ganz Besonderes.“ Ein Jahr wie ein Traum, dessen gewaltige Strahlkraft bis heute nachwirkt. Seine Erfolgsgeschichte trägt viele Namen. Auch und gerade jene des Pavel Richter und des Karel Holy, die dem Berliner Platz zu Sternstunden verhalfen. Sie waren Kaufbeurens große Attraktion und forcierten maßgeblich, dass der ESVK selbst zur Attraktion wurde. Scharenweise strömten die Menschen nach Kaufbeuren. Der Berliner Platz zog sie an wie ein Magnet. Das Spiel ein unvergessliches Erlebnis, die Atmosphäre ein aufsehenerregendes Ereignis – und wenn dann auch noch der von Manni Schuster und Dino Medicus ins Boot geholte Uwe Semtner die Boxen aufdrehte, gab es kein Halten mehr. Der Discjockey machte die Musik und er traf den Ton. La ola, die mexikanische Welle, schwappte über den ESVK und ihre Flut riss alle mit sich, die Mannschaft, die Anhänger, den Verein und das Allgäu. In Kaufbeuren fand sie erstmals Einlass ins deutsche Eishockey. Genau wie der vieltausendstimmig intonierte Stadionhit „Oaner geht noh“, dessen Import aus dem Festzelt in die Eishallen des Landes auf dem Mist von Nationalverteidiger Dieter Medicus gewachsen war. Mehr als 105.000 Besucher pilgerten zu den zwanzig rotgelben Heimspielen in den Eishockeytempel am Berliner Platz, um sich an der ausgelassenen Stimmung zu berauschen und kalte Schauer im Minutentakt über den Rücken laufen zu lassen. Überwältigt von einer über sich hinauswachsenden Herzblutmannschaft und einer genialen Stadionatmosphäre. Stehende Ovationen ein ganzes Jahr lang. Nicht endende Ehrenrunden ein ganzes Jahr lang. Gänsehaut ein ganzes Jahr lang. Auf einer Woge der Begeisterung trug die Mannschaft das Publikum, trug das Publikum die Mannschaft. In einem emotionsgeladenen Jahr, das nicht zum erfolgreichsten wurde. Vielleicht aber zum schönsten. Wahrscheinlich zum spektakulärsten. Ganz gewiss zum euphorischsten. Von allen.

 

Pavel Richter

Geboren: 5. Dezember 1954 in Prag

Körpergröße: 176 cm

Rückennummer: #11

Position: Außenstürmer

Bundesliga für den ESVK: 2 Jahre, 76 Spiele, 48 Tore, 82 Assists

Erfolge in der Bundesliga mit dem ESVK: Zweimal Viertelfinale 1987 und 1988, Topscorer der Doppelrunde 1987, All-Star-Team 1987, bester Ausländer auf deutschem Eis 1987 (Leserwahl Eishockey Magazin)

International: 135 Länderspiele für die CSSR, fünf Weltmeisterschaften (1978, 1981, 1982, 1983, 1985), einmal Olympische Winterspiele (Sarajevo 1984), zweimal Canada Cup (1976, 1981)

Größte internationale Erfolge: Weltmeister 1985 (also im Jahr vor seinem Wechsel zum ESVK, dabei Wahl ins Second All-Star-Team), Olympiasilber 1984, WM-Silber 1978, 1982, 1983, WM-Bronze 1981

Vereine: Sparta Prag, EHC Kloten, HC Ambri-Piotta (ohne Spiel), ESV Kaufbeuren, EHC 80 Nürnberg, 1. EV Weiden

 

Text: Manfred Kraus, Apfeltrach
Grafik: Manuel Ort

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